Pilotprojekt zur strukturellen Bewegungsförderung im Kanton St. Gallen

Foto: Kathrin Amann (Fachstelle Gemeinden /Gesundheitsdepartement Kanton St.Gallen, Schweiz)

„GEMEINDE BEWEGT“

Von Kathrin Amann (Fachstelle Gemeinden / Gesundheitsdepartement Kanton St. Gallen, Schweiz / Amt für Gesundheitsvorsorge, Abteilung ZEPRA – Prävention und Gesundheitsförderung)

Sitzen am Computer, sitzen im Auto oder in der Bahn, sitzen vor dem Fernseher: Verschiedene Publikationen weisen immer wieder darauf hin, dass sich die Bevölkerung weltweit zu wenig bewegt. In der Schweiz lautet die Empfehlung: 150 Minuten pro Woche, in denen sich Herzschlag und Atmung leicht beschleunigen. Ein Viertel der Bevölkerung erreicht dieses Ziel nicht. Bewegungsmangel ist in vielen industrialisierten Ländern einer der wichtigsten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch Übergewicht, Diabetes und verschiedene Krebsarten können die Folge sein. Regelmäßige körperliche Aktivität wirkt nicht nur den genannten gesundheitlichen Risiken entgegen, sie wirkt sich auch positiv auf das psychische Wohlbefinden aus. Und nicht zuletzt erleichtert Bewegung die soziale Integration der Generationen und verschiedenen kulturellen Gruppen, wenn sie zusammen mit anderen Menschen ausgeübt wird.

Studien zeigen, dass nicht nur intensives Sporttreiben, sondern auch tägliche Bewegung im Alltag, wie z.B. regelmäßiges Gehen oder Fahrradfahren einen beträchtlichen Schutzeffekt hat. Das Bewegungsverhalten der Menschen wird dabei einerseits von soziodemografischen Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Bildungsniveau beeinflusst. Diese Faktoren können durch Maßnahmen der Bewegungsförderung nicht (Alter, Geschlecht) bzw. nicht direkt (Bildung) beeinflusst werden. Auf der anderen Seite gibt es veränderbare Determinanten, die sich auf das Bewegungsverhalten auswirken. Dazu gehören neben personalen Faktoren auch das soziale und physische Umfeld (gebaute Umwelt). Während der Zusammenhang zwischen dem Bewegungsverhalten und der Gesundheit qualitativ sowie quantitativ eingehend erforscht ist, steht die Forschung zum Einfluss der gebauten Umgebung auf das Bewegungsverhalten erst am Anfang. Es gilt jedoch bereits heute als gesichert, dass das Wohnumfeld sich so verändern und gestalten lässt, dass Menschen mehr Möglichkeiten und weniger Barrieren vorfinden, um sich im Alltag regelmäßig zu bewegen. Bewegungsfreundliche Rahmenbedingungen im Wohnumfeld, auf Straßen, Wegen und Plätzen, das heisst sichere und attraktive Verbindungen und Aufenthaltsräume, beeinflussen das Bewegungsverhalten positiv. Genau darum geht es bei der strukturellen Bewegungsförderung.

Vernetzung aufbauen, Barrieren abbauen und dadurch Bewegung fördern

Zur Umsetzung von struktureller Bewegungsförderung in der Schweiz bzw. im Kanton St. Gallen wurde zwischen 2011 und 2013 in rund 10 Gemeinden das Pilotprojekt «Gemeinde bewegt» umgesetzt. Ziel: Bewegungsfreundliche Gemeinden und Quartiere sollen Jung und Alt zu mehr Bewegung motivieren, gleichzeitig aber auch den sozialen Zusammenhalt fördern und die Lebensqualität erhöhen. Menschen sollen sich dort, wo sie leben, lernen und arbeiten, gerne und sicher bewegen. Im Zentrum des Interesses standen strukturelle Verbesserungen für den Fuß- und Fahrradverkehr, die Aufwertung von öffentlichen Räumen, Spielplätzen, Sport- und Pausenplätzen, Frei- und Grünflächen sowie die Verbesserung ihrer Erreichbarkeit.

Rahmenbedingungen für die strukturelle Bewegungsförderung

Um Optimierungen in diesem Bereich zu erwirken, ist ein interdisziplinäres Vorgehen unerlässlich. «Gemeinde bewegt» wurde in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus den Bereichen Fußverkehr, Fahrradverkehr, Unfallverhütung, Naturschutz, Gesundheitsförderung und Prävention entwickelt und von drei Departementen des Kanton St. Gallen (Bau, Bildung und Gesundheit) unterstützt. Das Projekt richtete sich an die Gesamtbevölkerung, wobei ein besonderes Augenmerk der Berücksichtigung von Kindern, Seniorinnen und Senioren sowie Menschen mit einer Behinderung galt, da diese Personengruppen mit konventionellen Massnahmen der Bewegungsförderung oft nicht oder nur ungenügend erreicht werden. «Gemeinde bewegt» offerierte den jeweiligen Gemeinden eine Begleitung zur Umsetzung eines Massnahme-Pakets und Beratung zur Schaffung von besseren Rahmenbedingungen für strukturelle Bewegungsförderung. Konkret wurden den teilnehmenden Gemeinden drei Handlungsoptionen angeboten:

  • Planungs-Check: Überprüfen von bestehenden Planungsvorhaben hinsichtlich Bewegungsfreundlichkeit und der Berücksichtigung des Fuß- und Fahrradverkehrs
  • Schwachstellenerhebung Fuß- und Fahrradverkehr mit Tablet-Computer: Erfassung von Bewegungshindernissen und Bewegungspotentialen im Fuß- und Fahrradverkehr mithilfe einer neu entwickelten App
  • Zukunfts-Workshop mit der Bevölkerung: Workshop zur Ermittlung von Defiziten und Potenzialen von Straßenräumen, Wegverbindungen, Spielplätzen, Erholungsräumen etc.

Für die Optimierung der strukturellen Rahmenbedingungen ist der Einbezug der Bevölkerung eine zentrale Voraussetzung, denn nur damit kann gewährleistet werden, dass tatsächliche Bedürfnisse aufgegriffen werden. Daher war das Pilotprojekt «Gemeinde bewegt» als partizipativer Prozess angelegt. Die Bevölkerung einer Gemeinde sollte mit der elektronischen Erfassung von Schwachstellen die Möglichkeit erhalten, Bewegungshindernisse zu identifizieren, die für sie selbst relevant sind.

So konnten z.B. kurze und attraktive Wege zu wichtigen Orten wie Schule, Einkaufszentren, Freizeitanlagen und Bahnhöfen begutachtet werden. Und die Bevölkerung sollte dort, wo es um die Neuplanung und Neugestaltung ging, im Rahmen von Zukunfts-Workshops die Möglichkeit erhalten, Bedürfnisse und Ideen einzubringen. Dahinter stand die Erfahrung, dass aus Sicht von Eltern, Kindern, Seniorinnen und Senioren oder Menschen mit einer körperlichen Behinderung für eine ungehinderte und sichere Bewegung unterschiedliche Bedürfnisse im Vordergrund stehen.

Ebenso wurde die partnerschaftliche Vernetzung auf Gemeindeebene gesucht. Partnerinnen und Partner aus Schule, Verwaltung und Bevölkerung sollten zur Zusammenarbeit und Kooperation eingebunden werden. Die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen, die Sicht der Fachleute sowie die Rahmenbedingungen der Gemeinden wurden im Dialog zusammengeführt. Die teilnehmenden Gemeinden wurden während der Projektdauer von einer professionell ausgebildeten Fachperson begleitet. Sie erhielten Unterstützung bei der Wahl ihrer Ziele, bei der Wahl einer Handlungsoption und bei der Umsetzung mit den Zielgruppen. Am Ende des jeweiligen Prozesses wurden die durchgeführten Analysen in einem Schlussbericht zusammengestellt und den jeweiligen Gemeinden mit entsprechenden Empfehlungen übergeben.

Erfolgsfaktoren und Herausforderungen

Der Gesamtprozess von «Gemeinde bewegt» sowie die Umsetzung in den Pilotgemeinden wurden dokumentiert und evaluiert. Das Gesamtergebnis war sehr erfreulich – die anvisierten Ziele konnten allesamt erreicht werden. In den Gemeinden sind zwei von drei möglichen Handlungsoptionen (elektronische Schwachstellenerhebung, Zukunfts-Workshop) zum Einsatz gekommen, die sich bewährt haben. In allen teilnehmenden Gemeinden konnten Veränderungsprozesse initiiert werden: Rund zwei Drittel aller erhobenen Problemstellen konnten behoben bzw. in langfristige Planungsprozesse überführt werden. Der überwiegende Teil der Gemeindevertretungen möchte das Thema strukturelle Bewegungsförderung weiterbearbeiten; insbesondere möchten die Gemeinden den Langsamverkehr fördern, für ungehinderte Bewegung sorgen sowie interdisziplinär und partizipativ zusammenarbeiten.

Als Erfolgsfaktoren können unter anderem die interdepartementale Projektorganisation, der partizipative Einbezug der betroffenen Bevölkerungsgruppen sowie die enge Zusammenarbeit mit den Gemeinden genannt werden. Die Beteiligung von unterschiedlichen Departementen hat wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen und erweist sich auch im Hinblick auf die Nachhaltigkeit/Verankerung von «Gemeinde bewegt» als unabdingbar. Von zentraler Bedeutung ist eine flexible Herangehensweise, bei welcher das Vorgehen und der Einbezug unterschiedlicher Akteure stets neu definiert und an die individuellen Bedürfnisse und Gegebenheiten der jeweiligen Gemeinden angepasst wird. Die fachliche Begleitung der Prozesse durch entsprechend ausgebildete Fachpersonen hat sich bewährt und wurde von den Gemeinden geschätzt. Insbesondere die Begegnungen von Laien und Fachleuten vor Ort haben durch das spontane Erleben zu einem verstärkten Engagement geführt – z.B., wenn deutlich wurde, mit welchen Schwierigkeiten Rollstuhlfahrende im Zusammenhang mit dem Erreichen eines Zielorts konfrontiert werden.

Herausfordernd war die Akquisition der Gemeinden. Für eine erfolgreiche Durchführung und Umsetzung von Maßnahmen ist es wesentlich, dass Gemeindeverantwortliche hinter dem Projekt stehen und auch bereit sind, strukturelle Maßnahmen in die Wege zu leiten. Dazu müssen politische Entscheidungsträger-innen und Entscheidungsträger entsprechend sensibilisiert sowie frühzeitig eingebunden werden. Gemeinden können insbesondere dann gewonnen werden, wenn bestehende Anliegen aufgegriffen werden. Anknüpfungspunkte für strukturelle Bewegungsförderung bieten zum Beispiel die Themen Schulwegsicherung oder Verkehrssicherheit, die in vielen Gemeinden einen hohen Stellenwert haben.

In einem umfangreichen Schlussbericht wurden Ergebnisse der Analyse des Gesamtprozesses von «Gemeinde bewegt» sowie die Erfahrungen im Zusammenhang mit den konkreten Umsetzungen in den Gemeinden festgehalten. Parallel dazu wurde ein Leitfaden zur Umsetzung von struktureller Bewegungsförderung in den Gemeinden erstellt. «Gemeinde bewegt» wird im Kanton St. Gallen seit Abschluss der Pilotphase als Programm weitergeführt und im engen Erfahrungsaustausch mit den Gemeinden stetig weiterentwickelt. Gemeinden, die bewegungsfördernde Maßnahmen oder Projekte umsetzen, werden mit einer Anschubfinanzierung unterstützt.

Quellen / Weitere Informationen und Unterlagen zum Projekt

Dieser Artikel ist in der Fachzeitschrift Playground@Landscape, Ausgabe 05/2019 erschienen.

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